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08.10.2020

Leichtathletik

Erinnerungen an Erfolge und Enttäuschungen

von Christian Töpfer

Georgina Schneid blickt auf ihre Laufbahn zurück

Im Sommer 2019 hat Georgina Schneid ihre Karriere beendet und sich vom Leistungssport verabschiedet. Für Freunde und Angehörige hat sie ihre Erinnerungen in Schrift und Bild in einem selbst gestalteten Buch zusammengetragen. Wir bringen Ausschnitte davon.

Talentiert und schnell: Zwischen diesen Bildern liegen etwa 15 Jahre. (Fotos: Anton Schneid)

Als Georgina Schneid (Jahrgang 1990), die viele nur als „Gina“ kennen, vor über einem Jahr den letzten Wettkampf ihrer Karriere absolviert hatte (--> wir berichteten), ging eine lange und erfolgreiche Leichtathletik-Karriere zu Ende. Los gegangen mit der Leichtathletik war es am 1.6.1998, am 25.4.2001 begann ihre Mitgliedschaft beim TSV Vaterstetten. Im Trikot des TSVV hatte sie bis zuletzt an den Wettkämpfen der Hörenden teilgenommen, bei Wettkämpfen der Gehörlosen war sie für den GSV München angetreten.

Von den vielen Erfolgen in Ginas Karriere seien hier nur ein paar genannt:

•    12 Einsätze in der Nationalmannschaft der Gehörlosen von 2005 bis 2019 mit Reisen zum Beispiel in die Türkei, nach Kanada, nach Estland und nach Taiwan
•    4 Junioren-Weltrekorde in den Jahren 2007 und 2008 über 100 m, 100 m Hürden und im Siebenkampf aufgestellt
•    Zahlreiche Medaillen und vordere Platzierungen bei Welt- und Europameisterschaften der Gehörlosen und bei den Deaflympics von 2007 bis 2019 gewonnen
•    Ehrung als „Gehörlose Sportlerin des Jahres 2010

Im Folgenden eine Auswahl der Erinnerungen von Gina:

„Obwohl ich der Altersklasse Schülerinnen A angehörte, musste ich als 13-Jährige beim 100-m-Lauf der Altersklasse weibliche Jugend B im Rahmen des Deutschen Gehörlosen-Sportfestes 2004 in Hamburg gegen zwei bis drei Jahre ältere Konkurrenz antreten – mit Erfolg! Mit meiner Zeit von 13,23 Sek. konnte ich sogar vier Sprinterinnen, die der Gehörlosen-Nationalmannschaft angehörten, hinter mich lassen.“

„Ich gehörte zu den Nachwuchs-Elitesportlern der Stiftung Deutsche Sporthilfe und wurde von 2007 bis 2012 gefördert. Im Mai 2008 wurden ich und weitere DGS-Nachwuchselite-Sportler ins Schloss Bellevue eingeladen und dort von Bundespräsident Horst Köhler empfangen.“ 

„Am 5. September 2009 begann die grandiose Eröffnungsfeier der Deaflympics in Taipeh/Taiwan. Eine kaum zu toppende Show und ein begeistertes Publikum im ausverkauften Stadion machten die Atmosphäre perfekt. Überall waren bunte Farben, Darbietungen und Shows zu sehen. Beim Einmarsch der Nationalmannschaft ins Stadion bekam ich richtig Gänsehaut. Nach Ansprachen der ICSD-Präsidentin Donalda Ammons und des Präsidenten von Taiwan, Ma Ying-Jeou, wurde das deaflympische Feuer angezündet. Und dann konnte die Olympiade für mich richtig beginnen.“

„Während der Deaflympics in Sofia 2013 habe ich nach dem Speerwurf mit meinem Papa einen Meinungsaustausch gehabt. Er war enttäuscht von meinen schwachen Leistungen im Weitsprung und Speerwurf. Er sagte, dass ich die magische Marke von 4.000 Punkten im Siebenkampf nicht knacken könnte. Da wurde ich wütend und nahm mir vor, ihm zu zeigen, wozu ich fähig war – trotz meiner „Sorgedisziplin“, dem abschließenden 800-m-Lauf. Ich schmiedete einen Plan mit meinem Bundestrainer, Guido Kluth, um die Zeit von 2:40 Min. zu schaffen, die ich für die 4.000 Punkte brauchte. Mit Erfolg! Als Dritte im Ziel schaffte ich eine neue persönliche Bestleistung von 2:40,61 Min. Ich lag dann minutenlang auf der Bahn, denn ich hatte meine letzten Körner verbraucht. Am Ende schaffte ich eine neue persönliche Bestleistung mit 4.039 Punkten und belegte den 4. Platz – damit gehörte ich damals zu den wenigen Siebenkämpferinnen, die die 4.000-Punkte-Marke geknackt hatten.“

„Am 28.2.16 fand während des Spiel- und Sportnachmittags des TSV Zorneding die Verleihung der Sportabzeichen für das Jahr 2015 in der Sporthalle in Zorneding, meinem Wohnort, statt. Es waren über 100 Kinder und Jugendliche mit ihren Familien anwesend. Dort war ich als Ehrengast anwesend, was für mich eine große Ehre und eine große Freude war. Dabei durfte ich in einer 20-minütigen Präsentation von meinem erfolgreichen Sportleben sowie meiner Behinderung vor Kindern und Erwachsenen in der Verdolmetschung von Holger Ruppert erzählen. Es war schön zu sehen, wie ich die Menschen, die mir zugehört hatten, gefesselt hatte. Am Ende bekam ich als Gastgeschenk meine ersten eigenen Autogrammkarten. Anschließend nutzten zahlreiche Kinder die Gelegenheit, sich bei mir ein Autogramm zu holen. Dieses Erlebnis bleibt in meinem Herzen, denn an diesem Tag habe ich Respekt und Anerkennung von hörenden Menschen gespürt – so etwas ist in der Gesellschaft und im täglichen Leben leider nicht selbstverständlich.“

In Ginas Laufbahn gab es aber auch Enttäuschungen:

„Die Nicht-Teilnahme an den Deaflympics 2005 in Melbourne/Australie. Hierfür war ich angeblich zu unerfahren und zu jung – trotz der besten Leistung in meiner Disziplin im Nationalkader“.

Ein Salto Nullo beim Hochsprung im Siebenkampf während der WM in Toronto/Kanada – dieses Schicksal teilte ich mit anderen Siebenkämpferinnen. Nichtsdestotrotz war Aufgeben keine Option für uns.“

„Bei den Deaflympics 2013 in Sofia/Bulgarien (siehe oben) schaffte ich eine neue persönliche Bestleistung. Trotzdem reichte es nicht für eine Medaille! Die „ungeprüften“ Russinnen haben alles abgeräumt.“

„Direkt nach dem Zieleinlauf im 100-m-Halbfinale während der Deaflympics in Samsun/Türkei 2017 habe ich mir eine Zerrung oder einen Muskelfaserriss am Oberschenkel zugezogen. Sofort dachte ich an die Staffel, die für mich eigentlich der Höhepunkt dieser Spiele sein sollte. Am nächsten Tag stellte man fest, dass sich meine Verletzung verschlimmert hatte. Nach langen Gesprächen mit dem Arzt, der Bundestrainerin und meinem Papa habe ich beschlossen, auf den Start im Staffelfinale zu verzichten. Eine der schwersten Entscheidung in meiner Sportkarriere.“

Das Fazit von Georgina:

„Das Schöne zum Abschluss meiner Karriere war, dass ich bei meiner ersten EM-Teilnahme in Sofia 2007 eine Silbermedaille in der 4x100-m-Staffel gewonnen habe und dies bei meiner letzten EM-Teilnahme in Bochum-Wattenscheid 2019 wiederholen konnte – gleichfarbige Medaille in der gleichen Disziplin! Letztendlich habe ich mir wirklich keinen besseren Abschied von meinem Leistungssport vorstellen können, auch wenn er emotional und tränenreich war. 

Der Leistungssport hat mein Leben stark geprägt und ist ein Teil meiner Identität geworden. Dabei werde ich alle Erlebnisse, alle Höhen und Tiefen, unzählige Erfahrungen und lieb gewonnene Sportler für immer in meinem Herzen tragen.

Ich bedanke mich bei meinem großartigen Staffel-Team sowie dem tollen Leichtathletik-Team.  Auch möchte ich meiner Familie, meinem Heimtrainer vom TSV Vaterstetten Florian Cucu, meinem „Sportbruder“ Christoph Bischlager, dem Fitness-Studio in.punkto, allen Bundes- und Heimtrainern sowie allen anderen Personen herzlich danken, die immer an mich geglaubt, mich jederzeit unterstützt und mit mir gefiebert haben.

Es sind einfach zu viele Namen – nichtsdestotrotz möchte ich sagen: Danke für alles!“



Georgina Schneid (vorne liegend, l.) im Kreis des GSV München bei der Deutschen Meisterschaft der Gehörlosen 2016 in Essen (Foto: Anton Schneid)